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Kulturelle Schlüsselwörter

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Ich biete seit einigen Semestern eine wöchentliche Sprechstunde an, in der sich Studierende und Mitarbeiter/innen zu ihren Korpusprojekten beraten lassen können. Das ist primär als technische Beratung gedacht – aber es ist meist schwer, diese Beratung von inhaltlichen Fragen zu trennen. Damit die Inspiration nicht ungehört im Büro verhallt, will ich das bei öffentlichem Interesse immer mal wieder aufgreifen. Mark Liberman hat drüben im LanguageLog ja auch sein Breakfast ExperimentTM.

Bei Studierenden beliebt sind Themen aus der Kultur– oder Diskursanalyse, zum Beispiel wie Gruppen sprachlich in Texten dargestellt werden. Das lässt sich korpuslinguistisch sehr gut untersuchen und ist auch für Studierende in den unteren Semestern eine machbare Aufgabe: man schaut sich etwa an, welche Art Adjektive die Nomina modifizieren, mit denen bestimmte Gruppen bezeichnet werden (Marke: starke Jungs und süße Mädchen). Gleich zwei Fallstudien in der Beratung der letzten Wochen beschäftigten sich grob mit der Darstellung von Terror und Religionen. Meine Fingerübung heute ist deshalb stellvertretend zum Begriff Islam.

Man könnte zunächst plausibel erwarten, dass Islam häufig mit negativen Adjektiven assoziiert ist. Die häufigsten Adjektive im Corpus of Contemporary American English (COCA) sind mit absteigender Frequenz diese: radical, political, militant, fundamentalist, shiite, true, moderate, orthodox, traditional, early, mainstream, resurgent, real, conservative und original.

Aus dieser Liste könnte man also zum einen folgern, dass Islam recht häufig als radikal, politisch und potentiell gewalttätig dargestellt wird. Andererseits sind „echt“, moderat, orthodox oder original nicht unbedingt negative Bewertungen.

Das weitaus größere Problem mit dieser einfachen Betrachtung ist, dass wir solche Bewertungen nicht ohne weiteres der Darstellung des Islams allein zuschreiben können. Denn es könnte ja auch sein, dass Religion im Allgemeinen mit solchen Wertungen assoziiert ist.

Und unter den 20 häufigsten Adjektiven, die Christianity (‚Christentum‘) modifizieren, finden sich sehr ähnliche Adjektive, unter anderem auch negativ-abwertende Adjektive wie evangelical, fundamentalist oder primitive.1 Das Ziel ist also klar: Um belastbare Aussagen über die Relevanz von Frequenz zu machen, muss ich sie immer mit etwas vergleichen.

Interessant und naheliegend ist da zum Beispiel ein Vergleich der Darstellung über den Islam vor und nach dem 11. September; Studierende schlagen auch genau das immer gerne als Interessensgebiet vor. Da haben wir für die aktuelle Fingerübung Prä-Zäsur (1990–2000) political, fundamentalist, orthodox, militant, radical, early, traditional, resurgent, true oder shiite als Top 10. Nach dem 11. September (2002–2012) sind es radical, political, militant, moderate, fundamentalist, true, mainstream, traditional und early. Außer den unterschiedlichen Rangpositionen scheint sich aber nicht wirklich etwas „getan“ zu haben. Haben wir das so erwartet? Vielleicht, vielleicht auch nicht.

Auf den ersten Blick kaum sichtbare Unterschiede in solchen einfachen Listen sind nicht ungewöhnlich: Denn natürlich bleiben die Kernthemen erhalten (und damit auch häufige Adjektiv-Nomina-Kollokationen). Aber die Annahme, dass sich der Fokus verschoben hat, ist trotzdem plausibel und nicht vom Tisch. Nur wohin sich der Fokus verschoben hat, das kann uns an dieser Stelle die Statistik besser sagen. Denn die Frage ist: was tritt zu einem Zeitpunkt X häufiger als erwartet auf, hier etwa verglichen mit Zeitpunkt Y?

Auch das ist mit bloßem Auge nicht ohne weiteres zu erkennen: Zum Beispiel ist das Adjektiv political im ersten Zeitraum 45 mal belegt, danach 94 mal. Heißt das, dass political häufiger als erwartet nach 2002 das Wort Islam modifiziert? Und was heißt es, dass radical zunächst 10 mal, danach aber sogar 210 mal belegt ist? Hier muss man deshalb außerdem mit einbeziehen, dass ADJ-Muslim-Belege insgesamt nach 2001 drei Mal häufiger sind.2

Um Erwartet–Beobachtet–Zusammehänge aufzudecken, bediene ich mich hier der sogenannten Distinktiven Kollexemanalyse,3 die wir auch schon bei Wahlprogrammen oder dem Bibel-Gemetzel angewandt haben. Diese Methode identifiziert für zwei oder mehr Zeitpunkte oder Textsorten lexikalische Einheiten, die mit einen Zeitpunkt oder Text häufiger assoziiert sind, als mit dem anderen, also sogenannte „(kulturelle) Schlüsselwörter“.

Mit der Prä-Anschlags-Ära sind besonders assoziiert orthodox, social, Spanish, resurgent, fundamental, medieval, early, political oder sufi; mit der Post-Anschlags-Ära hingegen radical, militant, salafi, wahhabi, moderate, American, liberal, globalized, modern oder extremist. Hier zeigen sich zwei interessante Muster: denn einerseits scheint es nach 2001 einen stärkeren Gewalt– oder Extremismusbezug zu geben, was sich an radical und militant zeigt, die post-2001 mit deutlichem Abstand die Liste anführen. (Die Verdopplung von political zwischen den Zeiträumen hat also nicht dazu geführt, dass political stärker mit der Post-Anschlags-Ära verbunden wäre.)

Das zweite Muster ist etwas versteckter, aber weil es unerwartet ist, ist es deshalb eigentlich das spannendere: die assoziierten Adjektive für die Zeit nach dem 11. September suggerieren einen Diskursfokus, der sich eher auf moderne Strömungen innerhalb des Islams diversifiziert hat (radical, militant, moderate, liberal, American, globalized), während für die Zeit davor die historische Entwicklung und gesellschaftliche Ausgestaltung charakteristischer zu sein scheint (political, social, medieval, early, sufi). Denn während moderate oder liberal aus der Post-2001-Ära keine besonders negativen Bewertungen sind, ist ihre Assoziierung für diese Periode eventuell ein Hinweis darauf, dass heute die Auseinandersetzung mit der Auslegung des Islams zwischen moderaten und extremen Strömungen eher im Vordergrund steht. Im günstigen Fall könnte das ein Hinweis darauf sein, dass der Islam also nicht unbedingt als homogene Gruppe dargestellt wird. Im schlimmsten Fall könnte es natürlich (auch) ein Ausdruck der Marke „Ich habe ja nichts gegen einen moderaten Islam, aber…“ sein.

Aber das ist dann Teil einer vertieften Analyse der Suchwörter im Kontext und Stoff für eine andere Fingerübung — oder halt den Analyseteil studentischer Hausarbeiten.

  1. Wobei die Frequenz der Adjektive aus der abwertenden Gruppe insgesamt eher geringer ist, als bei Islam.
  2. Da die Textmenge in beiden Zeiträumen nahezu identisch ist, ist das in sich auch eine interessante Entdeckung, aber das wäre eine andere Fingerübung.
  3. Gries, Stefan Th. & Anatol Stefanowitsch. 2004. Extending collostructional analysis: A corpus-based perspective on ‘alternations.’ International Journal of Corpus Linguistics 9(1). 97–129.

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